Kennt ihr das Petunien-Massaker? Zum Start des neuen Jahres trägt ORF-Kulturredakteurin Carina Jielg vor allem eins in das Klassenzimmer der writers:class der HAK Lustenau: die Frage. Wozu braucht es Fragen, wie stellt man sie und was fragt man wen auf welche Weise?
Für ihre regelmäßige Berichterstattung im ORF geht Carina Jielg seit rund 25 Jahren dem Warum auf den Grund. Sie berichtet über Kunst, Musik und Literatur, ergründet aber auch im Rahmen der Baukultur, warum unsere Welt so aussieht, wie sie sich uns präsentiert. Darüber hinaus gehören auch geschichtliche Ereignisse zu ihrem Repertoire, die Ereignisse, die Menschen betreffen. So berichtet sie der 3. Klasse von den Tabu-Kindern, die zu Zeiten der französischen Besatzungstruppen auch in Vorarlberg aus Liebesbeziehungen zwischen marokkanischen Soldaten und Vorarlbergerinnen hervorgegangen sind und die damals wie heute unter Rassismus und Diskriminierung zu leiden haben.
Das Petunien-Massaker dagegen steht beispielhaft für eine weltweite Geschichte, in der eine unfreiwillig in die Welt gebrachte Genmanipulation Petunien orangefarben macht, die in der Natur lediglich nur in den Farben rot oder weiß vorkommen. Als Folge mussten in ganz Europa, der Schweiz und den USA sämtliche nicht roten oder weißen Petunien vernichtet werden. Carina Jielg erzählt den Jugendlichen auch vom Kunstkollektiv ‚Total Refusal‘, das sich z. B. in beliebte Kriegs-Computerspiele gehackt und damit für die Gamer:innen völlig unerwartete Optionen geschaffen hat. So tauchte in einem Kriegsspiel plötzlich die Möglichkeit auf, die Hauptfigur in einen Deserteur zu verwanden. In einem anderen Spiel gab es dafür eine Stadtführerin, die mitten im Endzeitszenario eines zerstörten New York erklärte, welche geschichtsträchtigen Bauwerke früher an ausgewählten Orten zu finden waren.
In keinem Fall solltet ihr aber die kleinen, überraschenden Fragen vergessen, die euer Gegenüber ruhig ein wenig ins Stolpern bringen.
Carina Jielg
Auf dem Weg zur guten Frage
Doch wie findet Carina Jielg als Journalistin diese Geschichten? Ganz einfach: erst richtig gut recherchieren und dann Fragen stellen. Letzteres klingt dabei einfacher als gedacht. Mit einer simplen Gruppenarbeit ermutigt die Kulturredakteurin die Schüler:innen ihre ersten Schritte auf dem Weg zur guten Frage selbst zu tun. In Kleingruppen überlegen die Jugendlichen, wen sie brennend gern interviewen würden, wenn sie denn die freie Wahl hätten. „Ich möchte Frau Naier interviewen!“, ruft eine Schülerin und schaut ihre Lehrerin erwartungsvoll an. „Nein, ich bin doch voll langweilig…“, gibt diese augenzwinkernd zurück. Schließlich geht es ganz schnell: von Ed Sheeran über Herbert Kickl oder Ronaldo bis hin zu Rihanna und Heidi Klum – an Ideen mangelt es den Teenagern nicht. Etwas schwieriger stellt sich die Frage nach den guten Fragen dar, die sie ihren Gesprächspartner:innen gern stellen möchten. Was will man vom Gegenüber wissen, was interessiert wirklich?
Am Ende der engagierten Gruppenarbeit werden dann die unterschiedlichsten Fragen in den Raum gestellt: Würde sich Herbert Kickl, wenn er jetzt jung wäre, noch einmal für die FPÖ entscheiden? Ist Heidi Klum davon überzeugt, dass eine vielarbeitende Frau auch eine gute Mutter sein kann? Wie fühlt es sich für den Basketball-Spieler Stephen Curry an, gemeinsam mit dem erfolgreichsten Korbwerfer in der NBA-Geschichte James LeBron für die Olympischen Spiele 2024 nominiert zu sein? Wurde Hailey Bieber immer von ihren Eltern unterstützt? Was ist für Cristiano Ronaldos Fußball-Erfolg ausschlaggebender: seine Motivation oder seine Disziplin und mit welchem Motto schwört sich Yuji Nishida kurz vor seinem nächsten Volleyball-Spiel ein?
Jedes Interview braucht eine gute Dramaturgie
Viele spannende Fragen, die gestellt werden sollten. Carina Jielg ist begeistert! Sie weist aber auch darauf hin, dass erst einmal entscheidend ist, ob man Popstars, Fußballer:innen oder Politiker:innen interviewt: „Bei einem politischen Interview müsst ihr extrem gut vorbereitet sein, sonst macht ihr es eurem Gegenüber leicht, das Gespräch für seine eigenen parteipolitischen Interessen zu nutzen.“ Außerdem gilt es, die Fragen thematisch klug zu überlegen. Sollen die Fragen helfen, viel über die Person selbst, über ihre Tätigkeit oder ihre Einstellung zu einer anderen Begebenheit zu erfahren? Eine goldene Regel ist dagegen einfach zu beachten: was man selbst recherchieren kann, sollte nicht mehr gefragt werden. Besonders hilfreich ist es auch, die Dramaturgie der verschiedenen Fragen gut auszuarbeiten. „Fangt mit einer kleinen Frage an, die es eurem Gegenüber leicht macht, mit euch ins Reden zu kommen. Wenn es möglich ist, spannt ihr hier schon den Bogen zu eurer letzten Frage, die dann einen runden Abschluss ergibt. Zwischendrin können die großen Fragen kommen, die in die Tiefe gehen. In keinem Fall solltet ihr aber die kleinen überraschenden Fragen vergessen, die euer Gegenüber ruhig ein wenig ins Stolpern bringen dürfen“, rät Carina Jielg den Jugendlichen.
Am Ende kann es auch passieren, dass ein komplett ausgearbeitetes Interview spontan über den Haufen geworfen werden muss. Dafür lässt Carina Jielg die Klasse den Profis zuschauen und zeigt einen Ausschnitt aus ‚Willkommen Österreich‘, in dem der Leadsänger der Band Wanda dem Moderator Christoph Grisseman gleich auf dessen erste Frage antwortet: „Ich lüge eh immer.“ Und was macht Grissemann da? Na, er wirft das Blatt mit seinen Fragen hinter sich und erfindet das Gespräch neu!
Die writers:class an der HAK Lustenau freut sich in diesem Jahr über eine spannende Kooperation mit dem ORF Vorarlberg. Ein Schuljahr lang widmen sich verschiedene Mitarbeiter:innen und Redakteur:innen aus den unterschiedlichsten Ressorts des ORF gemeinsam mit den Jugendlichen dem Thema ‚Schreiben fürs Hören.‘ Die writers:class an der HAK Lustenau ist ein gemeinsames Projekt des W*ORT in Lustenau und des Literaturhauses Vorarlberg mit phantastischer Unterstützung der Marktgemeinde Lustenau und Double Check.
Frauke Kühn, literatur.ist
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